16. November 2022

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Breites Themenspektrum

Bezirksärztekammer-Vertreterversammlungen

Ärzte

Jährlich im Herbst treten die Delegierten der Bezirksärztekammern zu ihren Vertreterversammlungen zusammen. Im Mittelpunkt stehen dabei neben den Haushaltsberatungen die aktuellen Lageberichte, die in der Regel auf gesundheitspolitische Zusammenhänge, die Rahmenbedingungen ärztlicher Tätigkeit sowie auf das breite Leistungsspektrum der ärztlichen Selbstverwaltung vor Ort eingehen.

In Nordwürttemberg bezeichnete Kammerpräsident Dr. Klaus Baier die Finanz- und Kassenlage in allen Bereichen des Gesundheitswesens als desaströs. Dabei sei dieser Befund wahrscheinlich schon so alt wie das Gesundheitssystem an sich. Die Dramatik der auseinanderlaufenden Einnahmen- und Ausgaben werde vielen aber wohl erst jetzt bewusst. Die Krankenhäuser seien strukturell unterfinanziert, notwendige Investitionen würden nicht oder nur unzureichend angestoßen und umgesetzt. Die laufenden Kosten explodierten förmlich, während die freiberuflichen Spielräume der Ärztinnen und Ärzte unter dem Eindruck der voranschreitenden Ökonomisierung und der Sparvorgaben weiter massiv eingeschränkt würden, analysierte Dr. Baier.

Auch der ambulante Sektor stoße mit dem Anstieg der Energiepreise und der Inflation an seine Belastungsgrenze. Während die Ausgaben immer weiter stiegen, könne die Einnahmenseite – anders als bei jedem Gewerbetreibenden – nicht einfach und schon gar nicht eigenmächtig ausgeweitet werden. Die Gebührenordnung setze den Rahmen, und im Falle der Gebührenordnung für Ärzte geschehe das seit über 25 Jahren ohne Anpassung.

Südwürttembergs Kammerpräsident Prof. Dr. Marko Wilke war sich sicher, dass angesichts der schlechten Finanzlage der Kassen wieder eine Reihe von Zumutungen für die Ärzteschaft geplant seien. Die verkündete Streichung der Neupatientenregelung sei für viele Niedergelassene nur der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Diese Wut hatte sich im Oktober in gleich zwei Protesttagen Luft gemacht und man könne nur hoffen, dass dieses Signal von der Basis gehört werde. Ebenfalls mit Spannung erwartet worden seien die ersten Vorschläge der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“, die sich zunächst mit der Sondersituation von Geburtshilfe und Pädiatrie und mit dem ambulanten Anbieten von Krankenhausleistungen beschäftigte. Viele Details seien aber immer noch reichlich unklar, was Prof. Wilke angesichts des gewünschten Inkrafttretens zum 1. Januar 2023 als problematisch darstellte. All diese Maßnahmen seien aber explizit nur für den Übergang gedacht, denn eine große Krankenhausreform stehe weiterhin aus. Es gebe es zwar positive Signale, dass die fallzahlunabhängigen Vorhaltekosten der Krankenhäuser besser berücksichtigt werden sollen, ob aber angesichts leerer Kassen wirklich eine nachhaltige Durchbrechung der Ökonomie-Orientierung erreicht werde, dürfe bezweifelt werden.

Lobenswert sei hingegen, dass sich der Bundesgesundheitsminister die schon lange vom Deutschen Ärztetag erhobenen Forderung nach 5.000 zusätzlichen Medizinstudienplätzen zu eigen gemacht habe, allerdings verweise er an dieser Stelle auf die Zuständigkeit der Bundesländer. Nach den Worten von Prof. Wilke liege der Verdacht auf ein „Schwarzer-Peter-Spiel“ nahe. Dass der Nachwuchs fehle, merkten viele Ärztinnen und Ärzte jeden Tag, und der Kammerpräsident verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass dies endlich zur Politik durchdringe.

In allen Vertreterversammlungen war die Coronapandmie inhaltlich sehr präsent, so wies beispielsweise Nordbadens Präsident Dr. Christoph Hofele darauf hin, dass die Ärzteschaft bei der Bewältigung der Pandemie ihr Bestes gegeben habe. Es habe sich dabei wieder einmal gezeigt, wie wichtig funktionierende lokale Ärzteschaften seien, denn diese hätten eine essenzielle und tragende Rolle in der Bewältigung der Pandemie gehabt. Sehr nachdenklich gemacht hätten ihn jedoch die zunehmenden gewaltsamen Übergriffe auf und Bedrohungen gegen Ärztinnen und Ärzte und Gesundheitseinrichtungen im In- und Ausland. Beispielsweise durch gezielte Angriffe auf Krankenhäuser im Ukraine Krieg, aber auch durch Angriffe auf Ärztinnen und Ärzte im Iran, die verletzte Demonstranten versorgen wollten, ebenso durch die Verhaftung der Präsidentin der Türkischen Ärztekammer, Professor Şebnem Korur Fincanci, die die Untersuchung eines möglichen Einsatzes von chemischen Waffen der türkischen Armee gegen die kurdische Bevölkerung im Irak gefordert hatte. Im Inland gehöre die Bedrohung und Hetze gegen Ärztinnen und Ärzte durch Coronaleugner, Verschwörungs-Theoretiker, Reichsbürger und andere dazu. Es sei die vornehmste und wichtigste Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten, so Prof. Hofele, Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer politischen oder religiösen Überzeugung zu behandeln; dies gelte in Friedenszeiten wie in Konfliktsituationen.

Auch Dr. Paula Hezler-Rusch, Präsidentin der Bezirksärztekammer Südbaden, widmete sich dieser zentralen Thematik, als sie an den Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine im Frühjahr erinnerte. Sie habe damit den imperialen Krieg gegen dieses große Land in Europa begonnen und führe ihn seit Monaten in brutaler Weise nicht nur gegen die ukrainische Armee, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung. Die südbadische Bezirksärztekammer hatte schon im Frühjahr eine viel beachtete Resolution gegen diesen Krieg verabschiedet, die nach den Worten der Präsidentin unverändert gelte.

Die Ärzteschaft müsse zudem Aufschreien und Protestieren gegen die Unterdrückung, Diskriminierung, Entrechtung, Vergewaltigung und Misshandlung von Frauen weltweit. Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini im Iran sei eine Spitze dieses weltweiten Unrechts. Vor diesem Hintergrund verabschiedete die südbadische Vertreterversammlung eine Entschließung, mit der Maßnahmen initiiert und unterstützt werden sollen, die den Schutz von Frauen in Krisengebieten und Kriegsgebieten sichern und sie schützen gegen Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen im Kriegsgeschehen als Machtausübung bei Gebietsgewinnen. Die erschreckenden Ereignisse im Iran durch die Gewaltausübungen der Sittenpolizei mit dem Tod von Masha Amini möge ebenfalls trauriger Anlass sein, dass die Ärzteschaft Südbadens auf allen zur Verfügung stehenden Wegen einwirkt, die Wahrung der Frauenrechte weltweit einzufordern, wobei die körperliche und psychische Unversehrtheit ein Grundrecht darstelle.

Südbadens Vizepräsident Dr. Ulrich Voshaar ging unter anderem auf die Situation in Praxen und Kliniken ein und betonte, Arbeitsverdichtung und Personalmangel seien aber nur ein Aspekt der insgesamt schwierigen Situation. Hinzu kämen in diesem Jahr die Energiepreissteigerungen, die bei staatlich reglementierten Preisen nicht weitergegeben werden könnten, zudem seien die Coronahilfen im Sommer ausgelaufen. Hinzu komme auch noch die Inflation. Pandemie, Energiepreise und Inflation zusammen brächten beispielsweise angesichts einer vorgesehenen Steigerung der Einnahmen der Kliniken um 2,32 Prozent für das laufende Jahr die Krankenhäuser in eine extrem schwierige wirtschaftliche Lage. Und die weiterhin ausbleibende ausreichende Investitionsfinanzierung des Landes trage ein Übriges bei, sodass die Situation insgesamt bedrohlich erscheine. Reformvorhaben seien aktuell in Details nicht einschätzbar, sodass auch die wirtschaftlichen Konsequenzen nicht kalkulierbar seien. Dr. Voshaar befürchtete daher, dass die zunehmende Ökonomisierung die zentrale Arzt-Patienten-Beziehung und die schützenswerten Merkmale einer primär dem Patientenwohl verpflichteten ärztlichen Tätigkeit bedrohe.