24. Juli 2022

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Baden-württembergisches Ärzteparlament

Vertreterversammlung der Landesärztekammer

Krieg in der Ukraine, Kampf gegen Corona, Klimawandel und viel Bewegung im Gesundheitssektor - es waren alles andere als ruhige Zeiten, in denen das baden-württembergische Ärzteparlament zur diesjährigen Sommersitzung zusammenkam. Die Delegierten nutzen daher die Vertreterversammlung, um auf die aktuellen Herausforderungen angemessen zu reagieren: Sie debattierten, stellten Forderungen auf, brachten Maßnahmen auf den Weg und stellten gesundheitspolitische Weichen, um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden und die Ärzteschaft - gerade im Jahr der Kammerwahl - schlagkräftig zu halten.

Lagebericht

Dr. Wolfgang Miller, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, ging zu Beginn auf die großen Krisen der Zeit ein und betonte: Ärzteschaft und ärztliche Selbstverwaltung stehen bei der Bewältigung der Probleme keinesfalls außen vor. Stattdessen seien sie mit ihrem ärztlichen Knowhow tief eingebunden: „Tag für Tag kämpfen wir gegen Leid, Krankheit, Schmerz“, sagte Dr. Miller. „Jeder an seinem Platz: Wir setzen uns ein für eine gesunde Welt, wir widerstehen der Pandemie und der Gleichgültigkeit.“
 
Danach skizzierte er einige Maßnahmen der Selbstverwaltung: Unterstützung ärztlicher Kolleginnen und Kollegen bei ihrer Arbeit in Deutschland und Weiterverbreitung wichtiger Informationen in der Ukraine-Krise, Mitarbeit an Impfkonzepten für den Herbst und an Behandlungskonzepten für Long-Covid sowie vielfältige Beratungsleistungen im Kampf gegen Corona. Und er ging auf den Klimawandel ein, der zudem auch in einem eigenen Tagesordnungspunkt behandelt wurde.
 
Nicht außer Acht gelassen wurden gesundheitspolitische Entwicklungen. Präsident Dr. Miller kritisierte das Vor-Ort-Apotheken-Stärkungsgesetz und bemängelte, Ärzte- und Apothekerschaft würden zum Leidwesen der Patienten gegeneinander ausgespielt; statt einer Verbesserung der Lage sei mit Misstrauen, Unsicherheit und schlechter Compliance zu rechnen. Die Delegierten bekundeten Zustimmung durch kräftigen Applaus.
 
Auch die immer noch lückenhafte Vergütung in der Patientenversorgung und das mangelhafte Finanzierungskonzept der Bundesregierung in puncto Digitalisierung des Gesundheitssektors sprach Dr. Miller an. Bei aller Kritik verwies er jedoch darauf, dass die ärztliche Selbstverwaltung durch ureigene Stärken selbst größten Herausforderungen gewachsen ist: „Durch Professionalität in unseren Regelwerken, in der Berufsordnung, durch Vorgaben für Weiterbildung und Fortbildung und einer Verwaltungspraxis, die die Berufsausübung und die Versorgung in Blick hat“, betonte Dr. Miller. Einen Überblick gab der Präsident zudem über weitere Themenkomplexe, in denen die Ärztekammer fachlich eingebunden ist, darunter Organtransplantation, assistierter Suizid, Triage und Organisation der Notfallversorgung.

Weiterbildungsordnung

Die Delegierten hatten bereits bei der Vertreterversammlung im Herbst 2021 wichtige Änderungen der Weiterbildungsordnung ins Auge gefasst, die zwischenzeitlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterlagen. Jetzt waren die Abgeordneten aufgerufen, entsprechend finale Beschlüsse zu fassen. Der Vorsitzende der Weiterbildungsgremien, Dr. Klaus Baier, stellte die Änderungen vor, allen voran die Einführung der Facharztbezeichnung Innere Medizin und Infektiologie im Gebiet Innere Medizin. Außerdem wurden Regelungen zur Weiterbildung in Teilzeit verabschiedet; sie stellen klar, dass auch Weiterbildungsabschnitte von mindestens zwölf Stunden pro Woche anrechenbar sind; die Weiterbildung darf derart bis zur Hälfte der in der Weiterbildungsordnung vorgesehenen Zeit erfolgen. Weitere Anpassungen betrafen das Gebiet Kinder- und Jugendmedizin, die Facharztkompetenz Psychiatrie und Psychotherapie sowie Ergänzungen in den Zusatzweiterbildungen Nuklearmedizinische Diagnostik für Radiologen und Röntgendiagnostik für Nuklearmediziner. Bevor die Beschlüsse der Vertreterversammlung in Kraft treten können, müssen Sie allerdings noch von der Aufsichtsbehörde genehmigt und im Ärzteblatt Baden-Württemberg bekannt gemacht werden.

Homöopathie

Unter der Überschrift „Zusatzweiterbildungen müssen auf Evidenz basieren“ hatte die Vertreterversammlung im November überaus kontrovers diskutiert, ob die Zusatzweiterbildung Homöopathie aus der Weiterbildungsordnung gestrichen werden soll. Der entsprechende Antrag war seinerzeit mit 41 zu 40 Stimmen an den Vorstand überwiesen worden.

Bisher haben 12 von 17 Landesärztekammern die Zusatzweiterbildung Homöopathie aus ihren Weiterbildungsordnungen gestrichen, während sie in Thüringen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Westfalen-Lippe und Baden-Württemberg derzeit existiert. Davon unabhängig hat der Deutsche Ärztetag die Homöopathie in diesem Jahr aus der Muster-Weiterbildungsordnung gestrichen.

Auftragsgemäß hatte der Vorstand der Landesärztekammer den Themenkomplex zwischenzeitlich eingehend beraten und vorbereitet und legte der Vertreterversammlung die Frage jetzt erneut zur Entscheidung vor, sprach sich aber gleichzeitig für eine breite und grundlegende Diskussion der Delegierten aus. So konnte eine ausführliche und faire Erörterung von Pro- und Contra-Argumenten erfolgen, die stets sachlich blieb und vielerlei Aspekte berücksichtige. Die Delegierten lobten dabei auch die gute Vorbereitung des Themas durch den Kammervorstand.
 
Am Ende der einstündigen Debatte stimmten die Delegierten - dieses Mal mit deutlicher Mehrheit - dafür, die Homöopathie künftig auch in Baden-Württemberg aus der Weiterbildungsordnung zu streichen. Doch bevor dies geschehen kann, ist zunächst die europarechtlich vorgeschriebene Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen; die Landesärztekammer wird hierzu im August/September das öffentliche Beteiligungsverfahren starten. Dessen Ergebnisse werden dann der Vertreterversammlung im Herbst vorgelegt, damit sie sich abschließend eine Meinung bilden kann. Votiert sie für die Streichung der Homöopathie aus der Weiterbildungsordnung, muss das Sozialministerium diese Änderung zunächst genehmigen, bevor sie nach Bekanntmachung im Ärzteblatt Baden-Württemberg in Kraft treten kann. (Für Ärztinnen und Ärzte, die die Zusatzbezeichnung bereits erworben haben, wird in jedem Fall Bestandsschutz gelten.) Bei aller Skepsis der Mehrheit der Delegierten wurde klargestellt, dass die Anwendung homöopathischer Anamnese, Diagnostik und Therapie selbstverständlich weiterhin erlaubt ist aufgrund der Freiheit der Berufsausübung. Allerdings entfiele die Zertifizierung durch die Ärztekammer im Rahmen einer offiziellen Zusatzweiterbildung.

Versorgungsanstalt

Die Präsidentin der baden-württembergischen Versorgungsanstalt für Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte, Dr. Eva Hemberger, informierte die Delegierten über Aktuelles aus ihrem Hause; so gibt es derzeit über 20.00 Ruhegeldempfänger und über 90.000 aktive Teilnehmer. Die Summe der Versorgungsleistungen beträgt 749 Millionen Euro. 2021 hat die Versorgungsanstalt ein positives Ergebnis erwirtschaftet, bei einer ausgewiesenen Verzinsung des Deckungsstocks von 4,73 Prozent, dem höchsten Wert seit acht Jahren - dies ergibt zudem im bundesweiten Vergleich der Versorgungswerke einen Spitzenplatz. Die Sicherheitsrücklage wurde wegen der Volatilität der Märkte auf den satzungsgemäß höchstmöglichen Wert von 12 Prozent angehoben und Renten beziehungsweise Anwartschaften mit 1,25 Prozent dynamisiert. - In diesem Jahr begeht die baden-württembergische Versorgungsanstalt ihr 70-jähriges Jubiläum; aus diesem Anlass hat Dr. Hemberger im jüngsten Versorgungsbrief (abrufbar unter www.bwva.de) einen lesenswerten historischen Rückblick veröffentlicht.

Klimaschutzbericht

Dr. Robin Maitra, Vorstandsmitglied und einer der Klimaschutzbeauftragten der Landesärztekammer, präsentierte den ersten Klimaschutzbericht. Die ärztliche Selbstverwaltung bewies damit, dass sie es ernst meint mit der selbstgesteckten Aufgabe, in ihrem Wirkungsbereich mit gutem Beispiel voranzugehen. Denn bereits in den Vorjahren hatten Vertreterversammlung und Kammervorstand ein Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht, um die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zu untermauern.

Dr. Maitra stellte nun konkrete auf den Weg gebrachte Maßnahmen vor: moderne Videokonferenztechnik kann klimaschädliche Reisen zu Sitzungen ersetzen, Beachtung von Klimaschutzaspekten bei der Wahl des Verkehrsmittels, CO2-Ausstoß-Kompensationszahlungen auf Reisekostenformularen, Veranstaltungen, um auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen – dies alles und mehr gehört dazu.
 
Darüber hinaus skizzierte Dr. Maitra die Anstrengungen der Selbstverwaltung als Ganzes und gab darüber Auskunft, wie effektiv kleine und große Schritte hin zu mehr Nachhaltigkeit waren und sind: Einbau einer Gebäudeleittechnik, Umstellung auf Ökostrom, Kompensationszahlungen für Gaslieferungen, Homeoffice für Mitarbeiter, Papier aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern, ressourcenschonende Verwendung von Technologie-Produkten etc. - die Delegierten bekamen durch den Bericht einen tiefgehenden Einblick ins Klima-Engagement ihrer Standesvertretung. Dass das Thema weiterhin höchste Priorität hat, bewiesen die Delegierten auch mit diversen politische Forderungen (siehe unten).
 
Finanzielle Angelegenheiten

Ein aktueller Finanzbericht von Armin Flohr, Geschäftsführer der Landesärztekammer, eine Beschlussfassung zur Modernisierung von Haushaltsordnung und -richtlinien der Landesärztekammer sowie ein Beschluss zur zukunftsorientierten Finanzierung der Kammerwahlen standen im Mittelpunkt der Debatten. Die Berichterstattung und Beschlussfassung zur Weiterentwicklung des Regelwerks waren vorbereitet und vorgetragen vom Vorsitzenden des Haushaltsausschusses, Prof. Dr. Michael Faist, und dem Haushalts-Berichterstatter, Dr. Jörg Woll. Die Delegierten lobten in der Beratung neben Transparenz und Informationstiefe auch, dass sie nicht nur wie bisher in der Herbst-, sondern künftig auch regelmäßig in der Sommersitzung Einblicke in wichtige Haushaltsthemen erhalten.


Entschließungen

Die Vertreterversammlung fasste zahlreiche Entschließungen, die wir hier nur stark verkürzt wiedergeben.

Apotheker-Vor-Ort-Gesetz: Die Substitution ärztlichen Handelns durch Apotheker wurde strikt abgelehnt. Für den Notfalldienst wurde ein Dispensierrecht für die Ärzteschaft gefordert.
 
Neupatientenregelung: Das Bundesgesundheitsministerium soll die geplante Streichung der Neupatientenregelung zurücknehmen.
 
Corona-Schwerpunktpraxen: Bund, Länder und Krankenkassen sollen zusätzliche finanzielle Mittel zur Aufrechterhaltung der Coronaschwerpunktpraxen bereitstellen.

Maßnahmen für Klimaneutralität: Die politischen Entscheidungsträger sollen die Ausgestaltung und Implementierung klimasensibler Beratung - insbesondere von vulnerablen Patientengruppen - fördern und mit notwendigen Ressourcen ausstatten.
 
Extremwetterlagen: Die Landesregierung soll überprüfen, inwieweit Gesundheitseinrichtungen von Extremwetterlagen gefährdet sind und gegebenenfalls Mittel zu deren gezieltem Schutz zur Verfügung stellen.
 
Hitzeschutzmaßnahmen: Vor dem Hintergrund der immer höheren gesundheitlichen Gefährdung durch Hitzewellen wurde die Landesregierung aufgefordert, Mittel für den gezielten Schutz vor Hitze in öffentlichen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.
 
Hitzeaktionspläne: Die Landesregierung soll Mittel für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen bereitstellen und darauf hinwirken, dass die Ärzteschaft bei der Planung und Umsetzung von Hitzeschutzplänen einbezogen wird.
 
Cannabislegalisierung: Für den Fall einer kontrollierten legalen Cannabisabgabe wurde die Etablierung wirksamer Präventionsmaßnahmen gefordert.
 
Suchterkrankungen: Aufmerksam gemacht wurde auf die erheblichen gesundheitlichen Risiken und Schädigungen von Abhängigkeitserkrankungen sowie die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Kosten.
 
E-Gesundheitskarte für Geflüchtete: Die Landesregierung soll die elektronische Gesundheitskarte für alle zur Verfügung stellen.
 
Sprachmittlung: Die im Koalitionsvertrag genannte Sprachmittlung soll - auch mit Hilfe digitaler Anwendungen im Kontext notwendiger medizinischer Behandlung - als Bestandteil des SGB V schnell umgesetzt werden.
 
Weiterbildungszeiten: Die Anrechenbarkeit von Weiterbildungszeiten in anderen Gebieten soll auch auf die Facharztweiterbildungen in Innerer Medizin und Neurologie verankert werden.
 
Gebühr für eHBA: Die Kosten für den eHBA sollen nach dem Verursacherprinzip getragen werden.