18. Februar 2016
Nordwürttembergische Ärzteschaft macht düstere Zeit präsent

Kammerpräsident Dr. Klaus Baier, Dr. Robin Maitra, Dr. Wolfgang Miller, Künstler Renato Santarossa (v.r.) neben der Gedenkstele

„Nie wieder wollen wir als Ärzteschaft einer verbrecherischen und menschenverachtenden Medizin Raum geben.“ Dieses Versprechen gibt die Ärzteschaft Nordwürttembergs auf ihrem Mahnmal, das Mitte Februar in Stuttgart enthüllt wurde. Die Mediziner gedenken mit der modern gestalteten Stele aus Verbundglas „den Opfern der Medizin im Nationalsozialismus und aller Ärztinnen und Ärzte, die von 1933 bis 1945 gedemütigt, verfolgt und ermordet wurden.“
Bereits seit 2004, nach dem Einzug in das neue Kammergebäude, diskutierte die Ärzteschaft über den Umgang mit ihrer Vergangenheit. Unter der Moderation von Kammerpräsident Dr. Klaus Baier hatte die Vertreterversammlung die Frage an eine Arbeitsgruppe weitergegeben, die sich fortan mit der Rolle von Ärztinnen und Ärzte in Nordwürttemberg von 1933 bis 1945 befasste.
Zwar war eine umfassende historische Aufarbeitung nicht zu leisten, wie Vorstandsmitglied Dr. Wolfgang Miller berichtete. Eine glückliche Fügung sei aber gewesen, dass eine Kollegin, Dr. Susanne Ruess, ihre Doktorarbeit zum Thema „Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus“ fertigstellte. In bemerkenswerten Biographien sind das Unrechtsregime und das Fehlverhalten von Ärzten ebenso dargestellt wie die Opfer von Verblendung, Lüge und Gewalt. Die Kammer unterstütze den Druck und ist stolz, dass die Arbeit mit dem Forschungspreis von Bundesärztekammer und Kassenärztlicher Bundesvereinigung ausgezeichnet wurde. Eine gute Zusammenarbeit habe es unter anderem auch mit dem Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen gegeben.
Ein Mahnmal soll mahnen, es soll zur Erinnerung anleiten und das Denken anregen, so einer der Mitiniatoren der Stele, der Internist Dr. Robin Maitra aus dem Landkreis Ludwigsburg. Deshalb habe die Bezirksärztekammer Nordwürttemberg, die rund 20.000 Mitglieder zählt, die Stele im Zentrum ihrer drei Gebäude errichtet. Hier entsteht Kontakt mit dem Mahnmal, hier haben Ärztinnen und Ärzte Gelegenheit, sich mit der Vergangenheit des eigenen Standes auseinander zu setzen. Schließlich ist die Kammer zentrale Anlaufstelle, die früher oder später von allen Ärzten der Region aufgesucht wird: zu Fortbildungen, zu Prüfungen oder zu administrativen Zwecken.
Die Auslöschung von Millionen Menschen durch das nationalsozialistische Regime geschah nicht abstrakt und irgendwo, sondern ganz konkret auch unweit des heutigen Kammergeländes, betonte Dr. Maitra. So nahm beispielsweise die Aktion T4 – von den Nazis „Aktion Gnadentod“ benannt – ihren Ausgang auf Schloss Grafeneck bei Gomadingen auf der Schwäbischen Alb; über 10.000 Menschen wurden hier ermordet. Zudem bestand am Städtischen Krankenhaus Stuttgart eine sogenannte Kinderfachabteilung, in der geistig kranke und behinderte Kinder im Rahmen der Euthanasie der Nazis ihr Leben verloren.
Das Versprechen der Ärzteschaft, nie wieder einer verbrecherischen und menschenverachtenden Medizin Raum zu geben, erlangt gerade in der heutigen Medizin große Brisanz, mahnte Dr. Maitra. Hochaktuell sind beispielsweise Fragen zur Sterbehilfe, die in der Praxis zu großen Kontroversen führen und die vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen mit der Ermordung wehrloser Kranker im Dritten Reich zu beurteilen sind. Es sind aber auch Fragen nach der Ressourcenallokation: Wenn neue Medikamente so teuer sind, dass bei Behandlung aller geeigneten Patienten zweistellige prozentuale Kostensteigerungen im Gesundheitswesen die Folge wären, so stellt sich die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit. Wer soll – bei begrenzten Mitteln – die Therapie erhalten und wer nicht? Wie und nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl oder „die Auslese“?
Auch die Gentechnik ist in diesem Zusammenhang problematisch. Ist es statthaft, Eingriffe in das menschliche Genom vorzunehmen? Mit welchen Zielen und mit welchen Folgen? Wo sind die Kontrollmechanismen? Was wäre, wenn derartige Möglichkeiten einem totalitären Regime zur Verfügung stünden? – Ebenfalls hochproblematisch stellt sich das weite Feld der Präimplantations-Diagnostik dar: alleine der Technik ist das ungelöste Problem einer Evaluierung immanent – oder genauer: das Problem der Bemessung des Wertes des Menschen?
Das Mahnmal der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg wird nach einhelliger Meinung dann seinen Zweck erfüllen, wenn auch künftige Generationen von Ärztinnen und Ärzten auf die Irrwege und Gefahren hingewiesen werden, die sich in einer Medizin fallgrubentief eröffnen, wenn Therapien, Prozeduren und Eingriffe den Wert des Menschen messen und beurteilen wollen.