27. Oktober 2021
Fokus Menschenrechte: Austausch zur Situation der Ärzteschaft in der Türkei
Den Arztberuf frei ausüben und Menschen eigenverantwortlich sowie nach bestem Gewissen helfen: Das ist längst nicht überall ohne staatliche Einschränkungen möglich. Ein Beispiel ist die Türkei – immer wieder wird die dortige Menschenrechtslage zum Gegenstand der allgemeinen Berichterstattung. Bisher nur wenig im Fokus war und ist die Situation der Ärzteschaft: Unter welchen Bedingen arbeiten dort tätige Ärztinnen und Ärzte? Können sie ihrem Beruf ohne Zwang und Repressalien nachgehen? Die Landesärztekammer Baden-Württemberg ermöglichte den fachlichen Austausch zu diesem wichtigen Thema.
Präsident Dr. Wolfgang Miller und der Menschenrechtsbeauftragte der Kammer, Dr. Robin Maitra, trafen sich mit Mitgliedern der Organisation TIHV – die Menschenrechtsstiftung der Türkei – sowie mit weiteren engagierten türkischen und kurdischen Vertretern, um die Lage zu erörtern und ein sichtbares Zeichen der Solidarität zu setzen.
Die Ärztin Elif Turan, Vorsitzende der Ärztekammer von Diyarbakir im Südosten der Türkei, berichtete aus erster Hand von der schwierigen Arbeit der dortigen Kammer und von den großen Herausforderungen, denen sich türkische Kolleginnen und Kollegen, die Missstände und Menschenrechtsverletzungen anprangern und dagegen vorgehen, im Alltag stellen müssen. Die Ärztekammer von Diyarbakir beschäftige sich schon lange mit Menschenrechtsfragen im Gesundheitswesen und unterstütze Ärztinnen und Ärzte beruflich und rechtlich, so Turan. Die Kammer erreichten immer wieder Berichte aus Gefängnissen, in denen Inhaftierte Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt seien. Ärztinnen und Ärzte, die Zustände und Beobachtungen offen ansprechen und kritisieren, seien anschließend oft mit Erpressungen, Einschüchterungen und Drohungen konfrontiert. Auch wer als Ärztin beziehungsweise Arzt Oppositionelle und politisch Engagierte behandle, müsse mit staatlichen Strafmaßnahmen rechnen – ein Verstoß gegen den internationalen Grundsatz der ärztlichen Neutralität, wie sie in der Genfer Konvention festgehalten ist: Denn Ärztinnen und Ärzte sind durch ihre beruflichen Grundsätze ihren Patienten verpflichtet und dürfen bei Ausübung ihrer ärztlichen Pflichten nicht gehindert oder rechtlich verfolgt werden.
Seit 2016, dem Jahr des Putschversuches in der Türkei, seien türkeiweit rund 130.000 Beamtinnen und Beamte – darunter auch Ärztinnen und Ärzte – entlassen und aus dem Beruf gedrängt worden, berichtete Turan weiter – 120 davon seien in Diyarbakir tätig gewesen. Ebenfalls vorgekommen seien Repressalien wie Entzug des Passes und Verlust des Versichtertenstatus bei der Krankenversicherung. Offizielle Begründungen habe es behördlicherseits für diese Maßnahmen nicht gegeben. „Viele erfahren nie, warum sie eigentlich ihren Job verloren haben“, sagte Turan.
Die Ärztin und die anderen Menschenrechtler führten den Teilnehmern des Treffens sehr plastisch die Konsequenzen dieser Maßnahmen vor Augen: Ärztliche Weiterbildung könne für Betroffene aufgrund des Status eines „entlassenen Beamten“ nicht fortgeführt werden; die Folge: berufliche Zwickmühlen mit allen daraus folgenden finanziellen Problemen. Ein Wechsel in andere ärztliche Sektoren wie beispielsweise der ambulante sei keine Option: Denn auch dieser Bereich sei staatlich reglementiert, zudem sei die Gründung einer eigenen Praxis sehr teuer. Mittlerweile gebe es immerhin Möglichkeiten, mit deutlich schlechter bezahlten Stellen in privaten Krankenhäusern oder in großen Unternehmen unterzukommen.
Viele Betroffenen seien zudem auch großen psychischen Belastungen ausgesetzt, führten die Menschenrechtler weiter aus. Dies wirke in die Familien der Betroffenen hinein und führe zu Folgebelastungen der Angehörigen.
Auch für diejenigen Ärztinnen und Ärzte, die weiterhin an staatlichen Krankenhäusern beschäftigt sind, sei die Situation nicht einfach: Es gelte, die zusätzlich anfallende Arbeit der weggefallenen Kolleginnen und Kollegen aufzufangen und ermüdende 36-Stunden-Schichten zu leisten.
Elif Turan sprach auch über den Umgang mit dem Coronavirus im Land. Die Ärztin kritisierte den ihrer Ansicht nach wenig transparenten staatlichen Informationsfluss und mangelnde diesbezügliche Gesundheitsaufklärung. So habe es beispielsweise erhebliche Abweichungen hinsichtlich der vom Gesundheitsministerium und der von der Ärztekammer erhobenen Corona-Inzidenzwerte gegeben. Hindernisse seien auch beim ärztlichen Bemühen um Schutzkleidung und Desinfektionsmittel zu spüren gewesen. Darüber hinaus habe sich die Bevölkerung beim Thema Corona-Schutzimpfung zunächst nur als sehr gering informiert gezeigt – was sich in dementsprechend niedrigen Impfquoten niedergeschlagen habe. Ärztliche Eigeninitiative in puncto Gesundheitsaufklärung habe dann zumindest im Südosten zu einer Erhöhung der Impfraten geführt.
Der Austausch in den Räumen der Landesärztekammer war sehr intensiv. Kammerpräsident Dr. Miller betonte mit Nachdruck: Ärztinnen und Ärzte dafür zu bestrafen, dass sie gewissenhaft ihrem Beruf nachkommen, widerspreche dem ärztlichen Ethos in den einfachsten Grundregeln. Ärztliche Pflichten auszuüben und Missstände zu kritisieren, sei ein Gebot der Menschlichkeit und kein Verbrechen. Die Teilnehmer der Zusammenkunft loteten gemeinsam auch Möglichkeiten der Unterstützung aus. So wird sich die Südwest-Ärzteschaft auch weiterhin dafür einsetzen, die schwierige Situation von Ärztinnen und Ärzten in der Türkei bekannt zu machen und Defizite offen anzusprechen. Die Kammer wird ihr Gewicht in den politisch-gesellschaftlichen Diskurs bringen, um ärztlicher Not auch weiterhin Gehör zu verschaffen.
Das Treffen war eingebettet in einen größeren Rahmen: Während ihres Deutschlandbesuchs treffen die Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler in Berlin auch auf Vertreter der Bundesärztekammer. Eingeladen wurden sie vom internationalen Ärztenetzwerk IPPNW. Beim Austausch in Stuttgart war mit Dr. Jörg Schmid der Vertreter der hiesigen IPPNW-Gruppierung vor Ort. Darüber hinaus nahm mit Birgitt Lackus-Reiter die Menschenrechtsbeauftragte der Landespychotherapeutenkammer Baden-Württemberg teil – ein sichtbarer Beweis dafür, dass Solidarität im Gesundheitswesen keine Sektorengrenzen kennt.