09. September 2022
Dr. Miller: „Es besteht die Gefahr von Versorgungsengpässen“

Aktuell gibt es im Bundesgesundheitsministerium Pläne, die sogenannte Neupatientenregelung zu streichen. Sie wurde ursprünglich mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt mit dem Ziel, dass Patientinnen und Patienten, die beispielsweise keine haus- oder fachärztliche Versorgung haben, schneller einen Termin bekommen.
Konkret ging es unter anderem um die extrabudgetäre Vergütung von sogenannten Neupatienten, also Patientinnen und Patienten, die erstmals oder erstmals wieder seit mehr als zwei Jahren in der jeweiligen Praxis behandelt werden. Ärztinnen und Ärzte lieferte dies Anreize, auch kurzfristiger mehr Termine anzubieten und mehr Menschen zu behandeln.
Die nun geplante Streichung dieser Regelung kann nach Auffassung der Ärzteschaft massive Versorgungs-Konsequenzen nach sich ziehen und dafür sorgen, dass Neupatienten bald deutlich länger warten müssen, weil Ärztinnen und Ärzte weniger Sprechzeiten anbieten. Dr. Wolfgang Miller, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, erläutert die Folgen und macht deutlich: Die Neupatientenregelung darf nicht wegfallen!
Aktuell führt die geplante Abschaffung der garantierten Vergütung für Neupatienten zu Unzufriedenheit bei vielen Ärztinnen und Ärzten. Haben Sie dafür Verständnis?
Dr. Wolfgang Miller: „Ja, ich habe großes Verständnis! Kein Tag vergeht, an dem uns nicht ernste und besorgte Bitten von Kolleginnen und Kollegen erreichen, hier aktiv zu werden. Als Ärztekammer äußern wir uns normalerweise nicht zu Fragen der Vergütungsregelungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier geht es aber weit darüber hinaus. Es geht um die Frage, wohin sich unsere Gesundheitsversorgung entwickelt und in welchem Umfang und in welcher Qualität wir hilfesuchende Menschen künftig versorgen können. Das ist etwas Grundsätzliches!
Wer ein gesundheitliches Problem hat, soll die Ärztin, den Arzt seines Vertrauens aufsuchen. Gerade auch Patientinnen und Patienten, die nicht regelmäßig in Behandlung sein müssen, müssen diese Chance bekommen. Die Aufhebung der Budgetierung für Neupatienten im TSVG war seinerzeit klar ein Schritt in die richtige Richtung. Ärztinnen und Ärzte, die außerhalb des normalen Betriebs eine Abklärung und eine Behandlung von Patienten ermöglichten, sollten natürlich wenigstens dafür verlässlich vergütet werden. Das war und ist nachvollziehbar und fair.
Ohne nachvollziehbaren Grund – allein aus der Idee heraus, hier könnte der eine oder andere Euro eingespart werden – soll das jetzt allerdings wieder gestrichen werden. Das rührt an die Grundfesten der ärztlichen Berufsausübung! Deswegen muss nach meiner Überzeugung auch die Ärztekammer dazu Stellung nehmen.“
Welche Auswirkungen wird die geplante Neuregelung auf die Versorgung der Menschen haben?
Dr. Wolfgang Miller: „Aufgabe von Ärztinnen und Ärzten ist es, die Gesundheit zu erhalten und wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern. Die bestehende Budgetierung macht das zunehmend schwieriger. Das waren und sind die grundsätzlichen Probleme – und dann kam auch noch die Coronapandemie dazu.
Die Pandemie hat bewiesen, dass unser Gesundheitswesen durch das große Engagement der Ärztinnen und Ärzte leistungsfähig ist. Allerdings unter der Maßgabe, dass die zusätzlichen Versorgungsmaßnahmen finanziert sind, ohne Budget und Rationierung. Dadurch konnten auch viele Patientinnen und Patienten zusätzlich versorgt werden, die sonst durchs Raster gefallen wären und möglicherweise chronische Krankheitsverläufe entwickelt hätten – mit viel höheren Gesundheitskosten und Folgekosten für die Gesellschaft als Ganzes. Die Zusage an Ärztinnen und Ärzte, für eine akute Untersuchung und Behandlung fair vergütet zu werden, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Durch den Wegfall der Neupatientenregelung besteht nun eine reelle Gefahr von Versorgungsengpässen – dass beispielsweise gerade akut erkrankte Menschen, die nicht als lebensbedrohlicher Notfall in die Klinik gehen, entweder gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht ausreichend ärztlich versorgt werden und dass dadurch gesundheitliche Probleme auftreten, die man hätte verhindern können. Aber gerade dies ist doch auch Aufgabe von uns Ärztinnen und Ärzten: dafür zu sorgen, dass Krankheiten nicht chronifizieren oder schlimmer werden, und dass wir auf diese Weise viele Menschen von ihrem Leid befreien. Das muss aber natürlich ärztlicherseits in den richtigen Rahmenbedingungen geschehen. Ärztinnen und Ärzte brauchen die entsprechenden Voraussetzungen, um ihrem Beruf – eigentlich ja ihrer Berufung – nachgehen zu können. Die Streichung der Neupatientenregelung sorgt nun für das genaue Gegenteil. Statt der dringend benötigten Entlastungen gibt es – anders als versprochen und angekündigt – noch weitere Belastungen und Einschränkungen für uns. Und für viele Menschen wird es deutlich schwieriger, die ärztliche Hilfe zu bekommen, die sie gerade benötigen.
Was raten Sie Kolleginnen und Kollegen, die sich mit der Situation konfrontiert sehen?
Dr. Wolfgang Miller: Wir Ärztinnen und Ärzte müssen einerseits unsere Patienten versorgen, dazu sind wir angetreten. Wir dürfen andererseits aber nicht müde werden, den politisch Verantwortlichen vor Augen zu führen, was ihre Entscheidungen konkret für die Gesundheitsversorgung bedeuten. Hier sehe ich eine breite Beteiligung über alle Facharztgruppen hinweg. Die Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken und Praxen reden vor Ort mit Ihren Ansprechpartnern bei den Krankenkassen und in der Politik. Gerade in einer gesellschaftlich schwierigen Situation müssen wir alle beweisen, dass wir in der Lage sind, die Grundversorgung zu gewährleisten. Und dazu gehört eben nicht nur, dass die Politik für ausreichend Energie und Lebensmittel sorgt, sondern dass sie auch alles daransetzt, eine verlässliche und effektive Gesundheitsversorgung zu erhalten.
Die Kolleginnen und Kollegen wissen, wie Gesundheitspolitik kompetent begleitet und mitgestaltet wird, jeder in seiner unmittelbaren Umgebung. Das beweist ihre engagierte Mitarbeit in den Verbänden und auch in der Ärztekammer. Sie werden auch jetzt, in Zeiten der bevorstehenden Kammerwahl, zeigen, dass auf die ärztliche Schlagkraft Verlass ist und dass Ärztinnen und Ärzte sich über alle ärztlichen Organisationen hinweg aktiv in die Gesellschaft einbringen.“